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West Ham | Wie David Moyes die Seifenblasen steigen lässt

11. November 2021 | Trending | BY Chris McCarthy

Spotlight | In der Premier League ist West Ham derzeit so etwas wie die Mannschaft der Stunde. Eine Eintagsfliege sind die Hammers allerdings nicht, Trainer David Moyes hat sich und den Verein innerhalb des letzten Jahres revitalisiert.

West Ham im oberen Drittel der Premier League etabliert

Am Wochenende fügte West Ham United dem FC Liverpool die erste Saisonniederlage zu. Obwohl der 3:2-Sieg mit Hilfe zweier kontroversen Schiedsrichterentscheidungen zustande kam, war er nicht mal unverdient. Als die Spieler vom Feld gingen, grölten die Fans die Vereinshymne von der schönen Seifenblase, die in die Luft steigt und irgendwann zerplatzt, in den Londoner Nachthimmel.



So schön es auch klang, selten passte der Text so wenig wie an diesem Abend. Nach frustrierenden Jahrzehnten zwischen großen Ambitionen und noch größeren sportlichen Enttäuschungen über Mittelmaß und Abstiegen, hat sich der Klub aus dem Osten Londons im oberen Drittel der Premier League etabliert. Letzte Saison qualifizierte man sich als vermeintlicher Abstiegskandidat bereits für die Europa League, 2021/2022 steht nach elf Spielen Platz drei zu Buche. Doch was sind die Gründe für den Aufschwung der Hammers?

Das Trainerteam um David Moyes

Im Mittelpunkt steht David Moyes, ein 58-jähriger Schotte mit glasigen Augen, dessen einst feuerroter Haarschopf fast komplett ergraut ist. Das Resultat des Alters, aber auch des Stresses.

Elf Jahre erarbeitete er sich bei Everton einen guten Ruf als guten Trainer, nur um diesen nach undankbaren und/oder unpassenden Trainerjobs bei Manchester United, Real Sociedad und dem AFC Sunderland wieder zu verlieren. Auch bei West Ham war man von Moyes nicht überzeugt, gab ihm selbst nach einer Rettungsaktion im Abstiegskampf 2017/2018 keinen neuen Vertrag. Im Dezember 2019, wieder im Abstiegskampf angelangt, kam er zurück. Und wie.

„Wenn du Tiefpunkte in deiner Trainerkarriere erlebst, kann es dich manchmal zu einem besseren Trainer machen, weil du entschlossen bist, solch eine Phase nie wieder zu durchleben“, sagte Ex-Hammers Coach Sam Allardyce bei The Athletic. Bei West Ham würde der Schotte nun zeigen, dass er „schon immer ein Top-Trainer gewesen ist.“

Zusammen mit einem renommierten wie erfahrenen Trainerteam um Englands ehemaligen U21-Trainer Stuart Pearce oder Ex-Hammer Kevin Nolan hat er eine der organisiertesten Mannschaften Englands geformt.

Die Mannschaft

Wie sieht diese Mannschaft aus? Die Innenverteidiger Andre Ogbonna, Issa Diop oder Kurt Zouma sind allesamt über 1,90 Meter groß und regelrechte Hünen. Gleiches gilt für Achter Tomas Soucek, eine torhungrige und zweikampfstarke Brechstange im Mittelfeld.

An seiner Seite spielt der ebenfalls großgewachsene, aber filigranere Declan Rice, der den gegnerischen Pass riechen und den eigenen selbst auf große Distanz punktgenau an den Mann bringen kann. Zusammen bilden sie eine der komplettesten Zentralen Europas. Das offensive Mittelfeld verfügt über die Dynamik eines Jarred Bowen auf dem Flügel und die Finesse eines Saïd Benrahma und Pablo Fornals. Im Angriff hat der sprint-, spiel-, wie kopfballstarke Michail Antonio eine vielseitige wie essentielle Rolle. Dabei profitiert der 31-jährige Engländer von seiner jahrelangen Erfahrung als fleischgewordene Allzweckwaffe.

West Ham verfügt über eine hervorragende Balance aus physischen und technischen Stärken.

Die Spielweise

Und wie setzt man solches Spielermaterial ein? Richtig, man verteidigt geschlossen, kompakt und aggressiv, sodass der Gegner weder über die Luft noch über den Boden ein Durchkommen findet. Dann schaltet man blitzschnell um, ebenfalls im Kollektiv.

Rice agiert dank seiner Übersicht meist als Initiator, die offensiven Mittelfeldspieler eilen nach vorne und orientieren sich oft ins Zentrum, während die unermüdlichen Außenverteidiger Aaron Cresswell, Vladimir Coufal oder Newcomer Ben Johnson überlappen, um Raum zu schaffen, damit Fornals (vier Tore), Benrahma (drei) oder Bowen (zwei) selbst abschließen. Oder sie feuern Flanken in die Mitte, wo Antonio (sechs Tore) vollstreckt oder ablegt.

Doch die zwei größten Waffen der Hammers sind Elemente, für die es nicht einmal viel Talent braucht. Ein Grund, wieso alleine in dieser Saison mit Liverpool und Leicester in der Liga, aber auch Manchester City und Manchester United im Pokal individuell stärker besetzte Mannschaften bezwungen wurden. Es handelt sich um Standards und Konter. Beide Elemente des Spiels wirken akribisch einstudiert und schlagen aus den physischen Komponenten des Kaders Kapital: Schnelligkeit, Dynamik und Größe. In der Premier League haben die Hammers die meisten Tore nach Konter (5) und die zweitmeisten nach Standards erzielt (6). Insgesamt hat nur Chelsea (27) mehr Treffer erzielt als West Ham (23).

Die Kultur

Moyes hat also spielerisch mit West Ham nicht unbedingt das Rad neu erfunden. Streng genommen ist die Spielweise der Londoner sogar relativ simpel. Damit sie funktioniert, müssen allerdings die Basics stimmen: Einsatz und Teamgeist.

„Sie arbeiten hart als Mannschaft, selbst die kreativen Spieler“, sagte Farrah Williams bei der BBC. Auch Benrahma oder Fornals sind sich für keinen Weg zu schade, entlasten somit die Hintermannschaft. „Dass jeder Spieler alles für Moyes geben will, setzt eine schöne Grundlage für das Team“, fügte die ehemalige Nationalspielern an.

Als Moyes übernahm sei es für ihn der Schlüssel gewesen „die Fitness zu verbessern und die Spieler gut kennenzulernen“, wie er den vereinseigenen Medien erklärte. Letzteres ist nicht zu unterschätzen. Laut The Athletic sucht der Trainer ständig den Dialog, vor allem zu den Ergänzungsspielern. Dabei versucht er sie zu involvieren, beispielsweise bei Teamaktivitäten abseits des Platzes. Die Folge ist eine Klub-Kultur, die vor Kameradschaft und Fleiß nur so strotzt.

Die Rekrutierung

Doch wo kommen die Spieler überhaupt her, die das Moyes-System derzeit so hervorragend umsetzen? Nun der Schotte hat sie großteils selbst an Land gezogen, überzeugte bei den Hammers nicht nur als Trainer sondern als Director of Football.

Tomas Soucek, Vladimir Coufal (16 und sechs Millionen Euro, Sparta Prag), Said Benrahma (23 Mio. Euro, Brentford), Jarrod Bowen (21 Mio., Hull): Sie alle wurden von Moyes verpflichtet, haben viel Potential, waren verhältnismäßig preiswert und sind Leistungsträger, manche sogar Führungsspieler. Auch Jesse Lingard (28) fand nach enttäuschenden Jahren bei Manchester United während seiner Leihe wieder zu alter Stärke, kehrte in die Nationalelf zurück. Erst im Oktober wurde Moyes durch Rob Newman ein Chef der Rekrutierung zur Seite gestellt, primär, um ihn zu entlasten.

An der erfolgreichen Strategie dürfte das nichts ändern. Newman betonte bei seiner Vorstellung, dass neue Spieler zu West Ham passen müssten, „nicht nur auf dem Platz, aber auch abseits des Platzes. Du musst nicht nur gute Fußballer, sondern auch gute Charaktere verpflichten.“

Darüber hinaus setzen Moyes und Co. endlich vermehrt auf die Jugend. Bei der U23 ist der Trainer ein Stammgast. Seit seiner Rückkehr nach Ostlondon im Dezember 2019 verhalf er neun Nachwuchsspielern zu ihren Debüts.

Die Blase steigt

Die Perspektive des Vereins ist so rosig wie lange nicht. Erst am Mittwoch erwarb der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky für rund 200 Millionen Pfund 27 Prozent an West Ham United, um „die Position des Klubs weiter zu stärken“. David Moyes hat die Grundlagen dafür geschaffen.

„Er versteht den Klub, er hat die Unterstützung des Vorstandes, die Fans lieben ihn und der Kader, den er zusammengestellt hat, ist voller großartiger Charaktere“, lobte sein ehemaliger Spieler Phil Jagielka bei The Athletic anlässlich Moyes’ 1.000. Spiel an der Seitenlinie vergangene Woche.

Seine Erfahrung bringt auch Nüchternheit mit sich. „Ich weiß nicht, was das Geheimnis ist, einen Klub zu bauen, aber ich treibe mich selbst an, stelle mir selbst hohe Anforderungen und pushe damit die Spieler und den Staff“, sagte der 58-Jährige. Am Ende seiner Arbeit ist er jedenfalls nicht angekommen. „Wenn wir etwas gewinnen können, großartig, aber Teil meines Jobs ist es, West Ham dort hin zu bringen, wo es hingehört“, findet Moyes und ergänzt: „Lasst uns sehen, wie es dann weiter geht.“ Die Seifenblase, sie steigt weiter.

(Photo by Justin Setterfield/Getty Images)

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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